Dafür, dass das Kinderbuch „Ben liebt Anna“ eine Liebesgeschichte erzählt, begegnet uns zu Anfang bereits sehr viel Wut. Ben ist ein sehr impulsiver Junge, der zwischen den Extremen still vor sich hinträumen und Aufbrausen pendelt.
Anna hingegen, dass Mädchen aus Polen, das neu in die Klasse kommt, handelt eher überlegt und reflektiert. Doch in beiden Fällen gilt, dass wir das Verhalten nur verstehen können, wenn wir hinter die Fassade schauen und versuchen, uns in die beiden Kinder hineinzufühlen.
Bei diesem Prozess ist der Leser den Kindern im Buch immer ein wenig voraus. Gerade dieser minimale Vorsprung kann helfen, Ben zu verstehen, bevor dieser sich selbst versteht. Er sorgt aber auch dafür, dass wir den beiden Protagonisten gelegentlich zurufen wollen »Nun stellt euch nicht so an!«.
So ist diese Liebesgeschichte vor allem eine Geschichte über die Kraft der Empathie und darüber, um wie viel reicher unser Leben wird, wenn wir uns auf andere Einlassen – der Leser auf Ben und Anna und diese wiederum auf einander.
Nur mit Empathie können wir verstehen, wie es sich anfühlt, so wie in Anna neu in einem fremden Land anzufangen. Oder wie es ist, in einer Großfamilie zu leben.
Doch ob wir auch so verstehen können, wie es sich anfühlt, ein Ben zu sein? Da bin ich mir nicht so sicher. Mir kam es so vor, als sei Ben vor allem ein Meister darin, sich selbst im Weg zu stehen. Etwas mehr Selbstreflektion, etwas mehr Offenheit im Umgang mit den eigenen Gefühlen und er hätte einen traumhaften Sommer mit Anna erleben können. So ist Anna weg, bevor Ben versteht, was Liebe ist.
Der ärgert dich nur, weil er dich mag?
Wir erleben die Geschichte sehr stark aus Bens Sicht. Ben ist sicherlich ein herzensguter Kerl, aber trotzdem pfeffert er Anna auf dem Schulhof einen Tennisball an den Kopf. Warum – weil Jungs so sind? Frei nach dem Motto »Der ärgert dich nur, weil er dich mag?«
Anna wirkt exotisch und geheimnisvoll. Wirklich nur, weil sie aus der Fremde kommt? Oder weil Mädchen so sind und von Jungs nie ganz verstanden werden können?
Das war für mich der Grund, mir auch die anderen Frauen- und Mädchenfiguren näher anzuschauen. Die eine Klassenkameradin ist eine Zicke, die andere hilfsbereit und fürsorglich, Annas Mutter hält die weitläufige Familie zusammen, während der Vater Arbeit sucht. Ich fand auf der weiblichen Seite fast nur eindimensionale Zuschreibungen, während mir die Männer- und Jungsfiguren deutlich komplexer vorkamen.
Das würde mich nicht so stören, wenn „Ben liebt Anna“ nicht immer noch zu den beliebtesten Schullektüren zählen würde. Es ist ein tolles Buch, eines, das vielfältigen Gesprächsstoff bietet: Wie fühlt es sich an, in einem anderen Land neu zu beginnen? Warum verlässt jemand seine Heimat? In wie weit bestimmen Gefühle unsere Handlungen? Wie kann ich das Verhalten anderer besser verstehen?
Doch ich kann nur hoffen, dass im Klassenzimmer nicht nur diese Fragen behandelt werden, sondern auch ein Blick auf das Verhalten von Mädchen und Jungs in dem Buch geworfen wird. Erst dann, wenn der Leser auf allen Ebenen mitdenkt und sich in die Geschichte hineinfühlt, wird aus „Ben liebt Anna“ eine richtig runde Liebesgeschichte.
Infos zum Kinderbuch:
Peter Härtling
Ben liebt Anna
Roman für Kinder
Beltz Verlag
Rezensionen zum Buch findet Ihr bei den Literalisten und bei Webcritics
#kinderbuchschätze – dazu gehört „Ben liebt Anna“ auf jeden Fall!