Der Kinderroman „Gertrude grenzenlos“ beginnt wie so viele Freundschaftsgeschichten. Ein neues Mädchen kommt in die Klasse. Ina ist sofort von der Neuen fasziniert. Sie wirkt anders, weniger oberflächlich. Von der Klassenlehrerin wird diese Gertrude subtil ungerecht behandelt. Mit dem Kindern eigenen Gerechtigkeitssinn beschließt Ina, dagegen anzukämpfen.
Was sie nicht ahnt: Damit beginnt ihr Weg vom Kind zum jungen Mädchen. Im Laufe der Geschichte erkennt Ina all das, was die Erwachsenen vor ihr verbergen wollen, um ihr eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Dass ihre Mutti eine Affäre mit ihrem Chef hat, ist nur eines dieser Geheimnisse.
Denn weil „Gertrude grenzenlos“ nicht irgendwo, sondern in der DDR spielt, gibt es vieles, was die Erwachsenen nicht aussprechen. Niemand sagt Ina, dass selbst der Jahresrekord im Altpapier-Sammeln Ina und Gertrude keinen Platz an der Wand der Besten bringen wird. Die Tochter eines Dichters mit Berufsverbot wird immer ungerecht behandelt werden. Hat Gertrudes Familie deswegen einen Ausreiseantrag gestellt oder sind die Gemeinheiten die Folge davon?
Niemand sagt Ina, dass die Frau Speckmantel aus ihrem Wohnblock nicht nur keift, sondern Informationen sammelt. Oder dass Andi, der nette junge Mann, der so viel Zeit in seiner Garage verbringt und mit dem man sich immer gut unterhalten kann, kein Umgang ist, der für gute Noten in der Schule sorgt. Doch dass sie sich vor den beiden Herren, die immer wieder zufällig an der Garage erscheinen, besser verbirgt, erkennt Ina selbst. Wie so vieles andere auch.
Am Ende der Geschichte wird Gertrudes Familie ausreisen dürfen. Und aus dem Kind Ina ist ein junges Mädchen geworden, das wach und aufmerksam die Welt beobachtet. Wie ihr Leben wohl weitergehen wird?
Damit ist der Kinderroman „Gertrude grenzenlos“ so viel mehr als nur eine tiefgehende, empathisch erzählte Freundschaftsgeschichte und doch sind es nur zwei Gefühle, die diese Geschichte einer Verwandlung auslösen: tiefe Zuneigung und Gerechtigkeitssinn.
Ein ruhiger Blick auf das Alltagsleben in der DDR
Pioniernachmittage, Fahnenappell, Wandzeitung. Aber auch Eis essen, rumalbern, Eifersüchteleien. Dieses Buch zeichnet auf unaufgeregte, verständnisvolle Art den Kinderalltag in der DDR nach. Selbst Kinder, die nichts darüber wissen, können das gut nachvollziehen, zumal ein Glossar am Ende des Buches hilft. Weder der Alltag noch die Freundschaften der Kinder unterscheiden sich groß von dem, was Kinder überall erleben. Es ist diese seltsame Welt der Erwachsenen, mit ihren unausgesprochenen Regeln, die das Kinderleben kompliziert machen.
Ina ist keine Rebellin. Sie ist einfach ein Mädchen, das zu ihren Gefühlen steht. Doch das kann in der Welt der Erwachsenen schon ausreichen, um anzuecken. Judith Burger geht mit ihrem Buch „Gertrude grenzenlos“ einen interessanten Weg: Sie stellt nicht einen Unrechtsstaat an den Pranger. Sie zeigt, wie schnell man in einem ganz normalen Leben in eine Situation kommen kann, in der man sich entscheiden muss: Haltung oder anpassen?
Ina ist weder eine Heldin, noch eine Widerstandskämpferin. Sie entscheidet aus dem Herzen heraus und geht ihren Weg. Weil Judith Burger das so erzählt, dass wir ihr jederzeit folgen können, ist dieses Buch für mich das beste, was ich über den Alltag in der DDR gelesen habe – und eine zutiefst berührende Freundschaftsgeschichte obendrein!
Weitere Infos zum Kinderbuch:
Judith Burger
Ulrike Möltgen (Illustrationen)
Gertrude grenzenlos
empfohlen für Kinder ab 10 Jahren
Gerstenberg Verlag
Hintergrundinfos und Rezension beim MDR.
Mehr Kinderliteratur auf meinem Blog:
- Pony Pedro – Erwin Strittmatter
- Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte – Luis Sepúlveda
- Jules Rattes – Peter Hacks & Klaus Ensikat
Pingback:Eine herrlich überdrehte Zeitreise: Pullerpause im Tal der Ahnungslosen