Erst als ich beide Kindersachbücher nebeneinander liegen sah, wurden mir die unterschiedlichen Herangehensweisen der Illustratoren so richtig bewusst. Der Was ist Was Band über Insekten wirkt vertraut; eine Mischung aus wissenschaftlicher Reportage und Bildern, die echte Hingucker sind – in diesem Fall die Makrofotografien. Die Welt der Insekten hingegen ist für ein Stickerbuch ungewohnt aufwendig gestaltet und erinnert an Bestimmungsbücher von früher, ist aber deutlich bunter und lebendiger.
Warum ich das bemerkenswert finde? Dafür muss ich etwas weiter ausholen.
Die Basis: Textverständnis
Dank des Aufrufs von Kirsten Boie Jedes Kind muss lesen lernen! wurde in letzter Zeit wieder betont, wie wichtig Lesen können für eine Teilhabe an der Gesellschaft ist. Ohne die Fähigkeit, Texte verstehen und deuten zu können, bleiben Menschen von vielem ausgeschlossen – seien es berufliche Karrierechancen, sei es die Möglichkeit, Demokratie mitzugestalten.
Die wichtige Ergänzung: Bilder verstehen
Doch Bilder werden in unserer Welt immer wichtiger und auch Bilder müssen »gelesen« werden. Genau wie bei Texten muss auch die Bedeutung der Bilder dechiffriert werden können. Für Medienkompetenz braucht es Text- und Bildverständnis. Nur dann kann ein Mensch verstehen, mit welcher Absicht eine Botschaft in die Welt gesetzt wurde.
Eine Kunstpädagogin hat mir mal erzählt, wie schwer es Kindern fällt, die nur mit einer bestimmten Art Bilder aufgewachsen sind, ungewohnte Illustrationen zu deuten. Dabei ist es völlig egal, ob diese Kinder bisher nur Disney-Bilder, nur Actionfilme oder nur den typischen Wieso? Weshalb? Warum? Stil kennen – was anders aussieht, bleibt erstmal rätselhaft. Dieses Rätsel kann man natürlich mit dem richtigen Handwerkszeug und ausreichend Ermutigung lösen. Doch ohne das bleiben die Kinder meist lieber bei dem, was sie schon kennen und deuten können.
Vielfalt hilft
Doch für Kontakt mit Bildern, die gedeutet werden wollen, muss man mit den Kindern nicht zwingend ins Museum gehen. Auch ein Sachthema, für das sich ein Kind schon interessiert, bietet bereits vielfältige Möglichkeiten. So wie diese beiden Bücher. Was ist Was Insekten verbindet wissenschaftliche Makrofotografie mit Bildern, die einen hohen Schauwert besitzen, und lockert das Thema mit einzelnen comic-ähnlichen Bildern auf. Das ist einerseits vertraut, bringt aber bereits Abwechslung in die Darstellungen.
Das Stickerbuch Die Welt der Insekten hingegen hat mich mit einem Stil überrascht, den ich so konsequent schon länger nicht mehr in einem Kinderbuch gesehen hatte: filigrane Zeichnungen, die an Bestimmungsbücher aus früheren Jahrhunderten erinnern. Solche Zeichnungen besitzen einen großen Vorteil: Das Charakteristische an einem Tier lässt sich so viel klarer herausarbeiten.
In einem dritten Schritt könnte man dann vielleicht doch mit dem Kind in ein Museum gehen, ein Naturkundemuseum. Dort findet man all diese Illustrationsstile wieder und das Gelesene wird durch Modelle und Objekte noch verständlicher.
Die Vielfalt der Illustrationen macht das Leben also nicht nur bunter, sie hilft auch, sich in der Welt besser zurechtzufinden.
Infos zu den Kindersachbüchern:
Insekten – Überlebenskünstler auf sechs Beinen
Was ist Was Band 30
Mitmachen und Entdecken Stickerbuch
In einer aliterarischen Welt bzw. Zugang zu einer Welt sind Bilder, Zeichnungen, Symbole (Schriftzeichen sind die am meisten abstrahierten Symbolzeichen) der Zugang zu Kommunikation, zu Wissen, zu den Regeln des menschlichen Zusammenlebens. Wie sieht etwas aus? Was ist ihre Grundform? Schon Babys versuchen, diese Mannigfaltigkeit an Zeichen zu erkennen, zu entziffern, in Zusammenhänge zu bringen. Winken beim Abschied? Wenn bestimmte Abschiedswörter auftreten, winken die nahen Menschen? Also selbst ausprobieren. Freude darauf, Bestärkung durch die anderen helfen zum Entziffern. So üben Kleinstkinder bis weit ins Grundschulalter hinein Kinder beim Dechiffrieren der Welt. Deswegen sind sie geübter als Erwachsene! Ich erinnere gerne an die grundlegenden Gedanken dazu bei Helmut Spanner.
Ich glaube übrigens, dass auch vielen Erwachsenen die Fähigkeit fehlt, Bilder zu lesen, ob sie es nie gelernt haben oder ob ihnen diese Fähigkeit mit der Zeit und den Blick auf andere Dinge verloren gegangen ist, kann ich nicht sagen. Das wird auch unterschiedlich sein. Ich habe häufig die Erfahrung gemacht, dass Kinder Bilder intensiver wahrnehmen, sich Zeit dafür nehmen und diese auch besser entschlüsseln können.