Hamster Radels Flucht ins Weizenfeld

Cover des Bilderbuchs Der Hamster Radel von Luis Murschetz

Wenn Hamster Radel im Schaufenster der Apotheke seine Runden im Laufrad dreht, bleiben alle stehen und schauen ihm zu. Prompt fällt ihnen ein, dass sie ja noch etwas aus der Apotheke brauchen. So ein flauschiger Hamster fördert den Umsatz.

Doch der geschäftstüchtige Apotheker ist nicht wirklich nett zu dem kleinen Hamster. Deswegen ergreift der pfiffige Radel die erste Möglichkeit zur Flucht. Im Laufrad rollt er die Straße herunter. Er ist nicht nur schneller als alle Fußgänger – er ist sogar schneller als die Feuerwehr! Hunderte Hamster (und ein paar Meerschweinchen) schließen sich ihm an und rollen hinaus aus der Stadt, über die Autobahn, bis sie in einem Feld zum Stehen kommen. Nicht alle Hamster werden dort bleiben und der kleine Radel riecht auch weiterhin ein wenig nach Apotheke.

Unterhaltung und kluge Fragen: die Kraft einer guten Geschichte

Auf den ersten Blick erinnert „Hamster Radel“ an Reihenmärchen wie der „Dicke, fette Pfannkuchen“. Eins führt zum anderen und mit dem rollenden Hamsterlaufrad gibt es eine schöne Metapher für die Dynamik der Geschichte. Es ist eine äußerst vergnügliche und spannende Geschichte, doch zwischen den Zeilen gibt es mahnende Hinweise, dass Kinder sich regelmäßig um ihre Haustiere kümmern sollten. Noch deutlicher schwingt die Frage mit, wie eigentlich ein schönes Hamsterleben aussieht.

Genauso prägnant ist das „Wir“ in der Geschichte: Wir, die wir uns von Werbung im Schaufenster verführen lassen, und so zu der nicht artgerechten Tierhaltung beitragen. Ein noch stärkeres „Wir“ geht von der gemeinsamen Flucht der Hamster aus. Einer alleine wäre im Weizenfeld nicht glücklich geworden. Doch gemeinsam gelingt ihnen der Start in ein neues Leben.

Zugleich ist es ein tolerantes „Wir“. Einige Hamster werden in die Stadt zurückkehren, da sie mit der eigenständigen Futtersuche nicht zurechtkommen. Das ist okay.

Doch vor allem erzählt das Bilderbuch eine rundum gute Geschichte mit Bildern, die sich einerseits auf die Dynamik der Handlung konzentrieren und andererseits den Blick weiten. Dabei liefern sie exakt so viel zusätzliche Informationen, wie es nötig ist, um das Kopfkino so richtig in Fahrt zu bringen!

Hamster Radel – Erscheinungsjahr 1975. Eine Zeitreise.

Das Bilderbuch erschien 1975. Als ich Ende der 80er Jahre meine Ausbildung zur Buchhändlerin begann, wurde es noch gut verkauft. Ich kann einen solchen Bilderbuchklassiker nicht lesen, ohne mich zu fragen, ob der heute noch genau so erscheinen würde.

Nun, der Diogenes Verlag hat ihn neu aufgelegt. Kann ich also die Frage mit einem klaren Ja beantworten?

Ich glaube nein. Die Geschichte an sich ist zeitlos. Doch bei zwei Doppelseiten würde der Künstler Luis Murschetz 2021 bestimmt gefragt werden, ob er nicht vielleicht kleine Änderungen vornehmen könnte. Die Eulen, die nachts über den Hamstern in ihren Laufrädern kreisen, bekämen heute sicherlich einen freundlichen Mond und ein paar hell leuchtende Sterne an die Seite. Und die Heerschar von Laufrädern, die über eine sich bedrohlich windende Autobahn schlängeln, wäre meiner Meinung nach aktuell nicht mehr im Bilderbuch. Ganz sicher bin ich mir, dass das Cover ein anderes wäre. Statt des verloren dreinblickenden Hamsters im Gully gäbe es sicherlich einen glücklichen Hamster mit dicken Backen im Weizenfeld. Oder als Kompromiss: ein Hamster im Laufrad.

Was meint ihr? Hat man Kindern damals mehr zugetraut und stärker auf die positive Kraft guter Geschichten vertraut?


Angaben zum Bilderbuch-Klassiker:

Luis Murschetz
Der Hamster Radel

Diogenes Verlag
Leseprobe beim Verlag


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